Wenn man über mehrere Wochen auf dem Ozean segelt, wird Zeit irgendwann zur Nebensache. Dass wir heute Samstag, den 14. Dezember haben, weiß ich auch nur deshalb, weil wir den gestrigen Freitag, den 13., allen Unkenrufen zum Trotz unbeschadet überstanden haben.
Wachplan als Zeitnormal
Bei manchen Dingen, die hier passieren, erinnert man sich irgendwann nur noch daran, dass sie passiert sind, aber nicht wann. So ist Roland vor ein paar Tagen ein fliegender Fisch durch die offene Luke in die Koje gesprungen, was nicht nur dazu führte, dass er tags darauf seinen Schlafsack waschen durfte, sondern auch dazu, dass es ihn nächtens, mit dem Fisch in der Hand und in Unterhose, durch den Salon nach draußen trieb.
An welchem Tag genau das Malheur allerdings passierte, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Am ehesten kann man sich den Verlauf der Tage noch merken, wenn man sich an seinem Wachplan orientiert. Wir teilen den Tag in sieben Wachschichten ein: tagsüber 4-Stunden Schichten, und nachts 3-Stunden Schichten. Bei sechs Leuten an Bord (drei Teams mit je zwei Personen) verschieben sich die Wachschichten jeden Tag um eine nach vorne, soll heißen: wenn ich heute die Nachmittagswache habe (12 bis 16 Uhr), wird es morgen die Morgenwache (8 bis 12 Uhr) sein, und da man pro Tag statistisch etwas über zwei Wachen hat, wiederholt sich dasselbe Schema alle drei Tage. Wenn ich mich also erinnere, dass wir nach einer meiner Sonnenaufgangswachen (5 bis 8 Uhr morgens) von einer Gruppe Delphine begleitet wurden, weiß ich, dass das vor zwei, fünf oder acht Tagen passiert sein kann. Aber wann genau…??? Dazu muss ich mir dann erst die Fotos anschauen, bei denen ja zum Glück auch das Aufnahmedatum gespeichert wird.
Ein anderes zeitliches Phänomen, das zwar theoretisch klar ist, aber dennoch überrascht, wenn man es selbst erlebt, ist die Verschiebung der Uhrzeiten bei langsamer Bewegung nach Westen (oder nach Osten, da wäre es dann andersrum). Als unser Sundowner sich von anfangs 18 Uhr so langsam der 20 Uhr-Marke näherte, und die Frühmorgenswache im Stockdusteren segelte, statt – wie zu Beginn – den Sonnenaufgang genießen zu können, haben wir kurzerhand die Bordzeit um zwei Stunden nach hinten verschoben. Und bis zu unserer Ankunft auf Guadeloupe, das immerhin auf 61 Grad West liegt, werden wir die Bordzeit wohl nochmal korrigieren müssen – auch, um dann mit der dortigen Ortszeit in Einklang zu sein.
Idylle oder Lethargie
Apropos Ankunft: Wir haben noch knapp 500 Seemeilen vor uns, was bedeutet, dass wir bei gleichbleibenden Winden in drei Tagen Land sehen sollten. Und die Gemütslage diesbezüglich könnte bei den verschiedenen Crewmitgliedern unterschiedlicher nicht sein. Ich bin momentan wahrscheinlich der Entspannteste.
Ich brauchte allerdings auch sehr lange, um in diesen „Transatlantik-Flow“ hineinzukommen. Vor etwa einer Woche war das. Da war ich schon vier Wochen unterwegs, und auch seit unserer Abfahrt aus Lanzarote war schon über eine Woche vergangen. Aber ich hatte immer das Gefühl, da kommt noch was, das kann noch nicht alles sein. So als wären wir immer noch im Vorspiel der Geschichte.
Keine 20-Sekunden Wellen…
Mit Schuld daran ist vielleicht Jan, unser Ex-Skipper. Als es uns in der Biskaya so dreckig ging, habe ich ihn gefragt, wie die Wellen denn auf dem offenen Atlantik wären. So naiv denkt man ja, es müsse eigentlich schlimmer sein als in der relativ kleinen Biskaya. Aber nein, versicherte er mir. Zum einen würden wir ja mit dem Passat segeln. Das heißt, die Wellen kommen von hinten und sind schon daher deutlich angenehmer. Und zum anderen sind die Wellen draußen auf dem Atlantik extrem lang, 20 Sekunden oder mehr.
Die Praxis sähe also so aus, dass eine Welle (die durchaus auch fünf Meter hoch sein kann, dass spielt dort keine Rolle) von hinten angerollt kommt, dann das Boot im Ganzen sanft anhebt, bis man oben auf dem Wellenkamm eine enorme Fernsicht hat. Dann rollt die Welle weiter, man sinkt ganz langsam ins Wellental, und nach einer sehr langen Zeit beginnt das Spiel von vorne. Also alles angenehm und problemlos, anders als die kurzen, steilen Fünf-Meter Wellen, die in der Biskaya stets von schräg vorne kamen und in die wir regelmäßig mit dem Bug hineingekracht sind, dass es nur so schepperte.
Und auf eben diese Situation mit den langen Wellen wartete ich seinerzeit quasi seit unserer Abfahrt von Lanzarote. Nun kamen die Wellen schon seit einiger Zeit von schräg hinten, und mit einer Periode von etwa 10 Sekunden krachte es auch nicht mehr ständig, aber die Schiffsbewegungen waren immer noch sehr stark. Manchmal, wenn wir quer durch den Salon gingen, sah es aus, als torkelten da ein paar Besoffene übers Schiff.
Ein zweiter Punkt war die Temperatur. Bis zu den Kapverden kletterte das Thermometer gerade mal bis etwa 23 Grad, dann wurden ganz schüchtern mal 25 Grad angepeilt. Und erst so vor zwei bis drei Tagen wurde es richtig warm, bis knapp unter dreißig Grad.
So dauerte es dann auch ungefähr bis zum achten oder zehnten Dezember, so genau kann ich das nicht datieren, bis ich endlich in diesem Transatlantik-Flow drin war. Das ist dann der Zustand, in dem man das Transatlantik-Cruisen voll genießt. Zu 100% sozusagen. Alles fließt irgendwie ganz organisch und natürlich, die Wachen machen Spaß, die Freiwachen auch, nachmittags sitzt man mit einem kalten Bier in der Lounge-Area und schaut der wandernden Sonne (oder auch mal ein paar Delphinen) hinterher… kurz: es passt alles. Wenn man Nachtwache hat, setzt man sich anschließend noch mit einem Gläschen Rotwein in den Salon und ist einfach happy, unterwegs zu sein. Man ist im Reinen mit sich und dem Seglerleben.
Begegnungen
Dazu gesellen sich dann auch noch diverse Begegnungen mit anderen Schiffen oder Meeressäugern, die das Segeln zu etwas Besonderem machen. In Erinnerung wird hier natürlich speziell der 9. Dezember bleiben. In der zweiten Nachthälfte taucht die Sea Cloud vor uns auf, ein historischer Segler, der mittlerweile Kreuzfahrten für eher wohlhabende Segelfreunde veranstaltet. Nach einer kleinen Kursänderung fahren wir dann auch noch raumschots, und mit dem Groß im 1. Reff und der Genua sind wir zeitweise mit 8 Knoten unterwegs. Kurz nach Sonnenaufgang fliegen wir quasi an diesem wunderschönen Viermaster vorbei, mit Vangelis‘ „1492“ als Hintergrundmusik.
Und als sei das noch nicht genug gewesen, bekommen wir anschließend Gesellschaft von einer größeren Gruppe Delphine. Da ich mit Günter die Morgenwache bis acht Uhr hatte, wäre ich anschließend gerne noch für ein paar Stunden zum Aussschlafen in die Koje, aber bei so viel Action am frühen Morgen muss der Schlaf warten.
Aber selbst an Tagen, an denen nichts besonderes passiert, geht es mir eigentlich sehr gut. Und so lange ich auch brauchte, um in diesen bereits erwähnten Flow hineinzukommen, jetzt bin ich mittendrin, und könnte mir durchaus vorstellen, noch zwei Wochen so weiterzusegeln. Entsprechende Vorräte an Bord vorausgesetzt. Andere dagegen wären so langsam froh, wenn wir endlich ankämen. Entweder, wie Markus, um ihre Familie wiederzusehen, oder weil sie so langsam einfach genug haben. Wieder andere, wie Marc, freuen sich einfach darauf, bald sagen zu können, dass wir es geschafft haben.
Das heißt jetzt nicht, dass es mich kalt lassen wird, wenn es in drei Tagen heißt: Land in Sicht! Aber bis dahin versuche ich, die verbleibende Zeit hier an Bord in vollen Zügen zu genießen. Denn letztendlich geht es heutzutage beim Segeln nicht ums Ankommen, sondern ums Unterwegssein. Oder auch: Der Weg ist das Ziel!