Laut Wikipedia ist ein Brevet „eine Langstreckenfahrt, bei der eine vorgegebene Strecke innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu fahren ist.“ Das Wort Brevet kommt, wie könnte es im Radsport anders sein, aus dem Französischen, und natürlich findet das bekannteste Brevet (wie auch die bekannteste Landesrundfahrt für Radprofis) in Frankreich statt.
Paris ist das Ziel
Es handelt sich hier um das vom Audax Club Parisien ausgerichtete Brevet Paris-Brest-Paris, eine Fernfahrt über 1200 Kilometer, die alle vier Jahre im August ausgetragen wird. Und 2019 ist es mal wieder soweit. Wie (fast) überall in der Welt gibt es auch in Chile Vorbereitungs-Brevets, denn um sich für Paris-Brest-Paris zu qualifizieren, muss man eine Serie von Brevets von 200, 300, 400 und 600 Kilometern Länge erfolgreich absolvieren. Erfolgreich heißt innerhalb einer bestimmten Zeit, die sich natürlich nach der Entfernung richtet.
Die in Chile vertretene Gruppe von Enthusiasten nennt sich „Austral Randonneurs“, und um den Kalender im Jahr 2019 zu eröffnen, findet am 26. Januar ein Brevet über 300 Kilometer statt. Genauer gesagt vom 26. zum 27., denn der Start ist um 17 Uhr, man fährt die Nacht durch, und muss innerhalb des Zeitlimits von 20 Stunden ins Ziel kommen. Und genau dafür bin ich angemeldet.
Im Prinzip bin ich schon gut vorbereitet. Vor zwei Wochen habe ich mal so eben im Alleingang knapp 170 Kilometer auf dem Rennrad zurückgelegt, und letztes Wochenende habe ich die 1800 Höhenmeter nach Farellones relativ problemlos im Sattel überwunden. Auch von der Ausrüstung bin ich gut dabei: Zwei Niterider-Frontlampen, die ich zur Not abwechselnd an der Powerbank laden kann, eine Rahmentasche für die nötigsten Utensilien, sowie ein neuer Hinterradreifen machen auch meinen Drahtesel Brevet-tauglich. Bei etwa 37 Grad Celsius mache ich mich also an diesem Samstagnachmittag auf dem Weg zum Startort, nahe der Innenstadt von Santiago.
Elende Hitze
Es ist in der Tat der heißeste Tag des Sommers, der Fahrtwind kommt mir vor wie ein Föhn, aber zumindest haben sie die Startnummernausgabe im Schatten einiger Bäume aufgebaut. Eine illustre Schar von Fahrradfanatikern hat sich hier versammelt; am Ende werden 47 Teilnehmer die etwas über 300 Kilometer unter die Reifen nehmen.
Pünktlich um siebzehn Uhr geht es los. Das schöne daran, in einer so großen Gruppe unterwegs zu sein, ist, dass man in der Innenstadt von Santiago quasi eine Spur auf der Hauptstraße für die Radfahrer blockieren kann. Kaum ein Autofahrer wird sich dazwischen klemmen, wenn er anschließend 20 Räder vornedran und 20 hintendran hat, die sich auch noch alle mit vergleichbarer Geschwindigkeit bewegen. Erst nach so etwa zehn Kilometern wandelt sich das Bild. Die stets vorhandenen Ampeln verkleinern die Gruppen. Ich finde aber alsbald ein vier bis sechs Personen starke Gruppe, deren Tempo sich knapp unter 30 Stundenkilometer bewegt. Damit kann ich leben, wir verlassen Santiago Richtung Südwesten und freuen uns – dank der immer noch allgegenwärtigen Hitze – auf die Nacht.
Mit der Freude ist es aber alsbald vorbei. In Talagante bin ich noch mit einem Brasilianer unterwegs, als ich ein kräftiges „Pffft“ aus der Richtung meines Vorderreifens vernehme. Schon bei dem vorigen Brevet über 200 Kilometer hatte ich einen Platten. Aber der hier ist schlimmer. Der ganze Reifen ist halbseitig zerschnitten, und sogar die Felge hat eine kleine Delle. Da muss ich aber eine Scherbe oder ein Stück Metall voll erwischt haben. Schnell ist klar, dass ich diesen Schaden alleine nicht beheben kann. Ich verabschiede mich also von meinem Brasilianer, lasse ihn alleine von dannen ziehen, und mache mich auf die Suche nach einem Fahrradladen.
In Deutschland wäre Samstag abend um 19 Uhr schon alles zu. Ich finde dagegen noch einen recht gut sortierten Laden. Der Wechsel von Reifen und Schlauch geht recht schnell vonstatten, und unerwarteterweise berechnen sie mir nur das Material. Was für eine nette Überraschung, nach der ich mich gleich doppelt motiviert auf den weiteren Weg machen kann. Klar, alleine gegen den Wind ist es immer schwieriger, dennoch erreiche ich ohne weitere Probleme, locker in der Sollzeit und immer noch motiviert die erste Kontrollstelle nach 70 Kilometern.
Elende Kälte
Auf der Weiterfahrt treffe ich Pepe, einen guten Kumpel, an den ich mich eigentlich von Beginn an halten wollte. Er wartet, bis ein Mitfahrer seinen Platten geflickt hat (das scheint heute kein Einzelschicksal zu sein), und kurz danach stößt Emilio zur Truppe, und so sind wir dann etwa die nächsten hundert Kilometer zu viert unterwegs.
Um elf Uhr abends wird es frisch, und sowohl am als auch kurz nach Kontrollpunkt Nummer zwei (nach 120 km), als wir zum Einkauf von Getränken und einer längeren Pause anhalten, fange ich an zu frieren. Klar, man ist nassgeschwitzt, aber selbst dafür fühle ich mich unwohl. Nur die Hinweise auf die bevorstehende 20 Kilometer lange Steigung mit Passüberschreitung halten mich davon ab, etwas wärmeres anzuziehen.
Wieder in Bewegung ist es halb so schlimm, und in der Tat bin ich an der darauffolgenden Bergauffahrt froh, nicht wärmer angezogen zu sein. Und diese Steigung (zur Cuesta Mallarauco, falls das einer googeln will) ist nicht nur geographisch einer der Höhepunkte der Fahrt. Zwischendurch überqueren wir die 150 Kilometer-Marke, und als es dann richtig steil wird (ja, ich fahre Schlangenlinien den Berg hoch) sieht man nur den Sternenhimmel, sowie über und unter mir ein halbes Dutzend Fahrradlampen kurze Straßenstücke beleuchten. Eine unvergleichliche Atmosphäre, die die Strapazen locker vergessen macht.
Oben, an der Passhöhe (naja, 650 Meter über Null), ist es erstaunlich warm, und man hat eine wunderbare Aussicht auf die Lichter im Südwesten Santiagos. Auf der Abfahrt wird es dann stetig kälter, und kurz danach ist Kontrollpunkt 3 (170 Kilometer) erreicht, wo ich mir dann endlich ein Unterhemd unters Trikot und Armlinge anziehe. Und der heiße Tee ist um viertel vor drei nachts auch sehr willkommen.
Elende Müdigkeit
Danach trennt sich leider irgendwie die Gruppe; gemeinsam mit Emilio fahren wir immerhin eine weiter vorne positionierte Gruppe von etwa sechs Personen auf, mit denen wir die nächsten 60 Kilometer durch tiefschwarze Nacht angehen. Dank der reflektierenden Westen (Pflicht bei Nacht-Brevets) und der vereinten Kraft der Fahrradlampen sieht man aber immer genug, und so kommen wir relativ ereignislos und recht zügig zum Kontrollpunkt 4, nach 220 Kilometern. Mittlerweile ist es viertel nach fünf, und langsam macht sich Müdigkeit breit. Und während am vorherigen Kontrollpunkt Leben war – alle waren froh, den Pass hinter sich zu haben, und es gab verschiedene Snacks und Getränke zu kaufen – ist es hier still. Jeder schweigt vor sich hin, denkt vielleicht an das, was noch vor uns liegt, und nur die beiden „Wachehalter“ muntern die Teilnehmer ein wenig auf.
Nach etwa 20 Minuten geht es weiter, und durch die Geländeeigenschaften teilt sich die achtköpfige Gruppe recht bald auf, mit mir in der schnelleren Hälfte. Als am Horizont die Morgendämmerung naht, beschließe ich, der ich die letzen 60 Kilometer im Windschatten verbracht habe, ein Stück vorne zu fahren… aber ruckzuck sind wir nur noch zu zweit, und kurz danach bin ich ganz alleine. Das versteh jetzt mal einer. Offensichtlich habe ich gerade meinen „zweiten Wind“, eine Art Morgendämmerungseuphorie. Während die anderen zurückbleiben, spule ich an einer kaum merklichen (aber 20 Kilometer langen) Steigung ganz locker meine Kilometer ab, und bei Kilometer 260, kurz vor dem letzten Kontrollpunkt, hole ich sogar noch eine vor mir fahrende Gruppe ein.
Nach einem Kaffee an diesem letzen Kontrollpunkt geht es zum Endspurt, und in der Tat gibt es hier ein Strava-Segment, auf dem ich (nach 280 Kilometern und 13 Stunden im Sattel, d.h. 16 Stunden Gesamtzeit) dann auch glatt noch einen persönlichen Rekord aufstelle. Danach geht es zum Ziel leicht bergab, und um kurz nach zehn am Sonntag morgen habe ich es geschafft. 308 Kilometer stehen auf der Uhr. Ich habe Durst und bin müde, aber glücklich.
In vier Wochen, am 23. Februar, steht ein Brevet über 400 Kilometer auf dem Programm. Logisch, dass ich auch dann wieder mit von der Partie sein werde.