Jeder Besuch bei der Tour de France zeichnet sich durch etwas Bestimmtes aus. Irgendetwas, das für mich in jenem Jahr DAS Thema während der Alpenetappen war. Dieses Jahr ist es eindeutig die Hitze.
Ein Schattenplatz am Straßenrand
Idealerweise gelangt man am Vortag einer Etappe relativ früh an die Strecke. Allerdings haben wir in der Vergangenheit auch dann gute Plätze gefunden, wenn wir erst abends oder nachts ankamen. An der Montée de Bisanne müssen wir dennoch vom Pass schon wieder einige Kilometer runterfahren, bevor sich rechts, an der Einfahrt zu einem Bauernhof, eine Möglichkeit auftut. Ein netter Franzose fährst sein Auto zwei Meter vor, so dass wir noch samt Zelt hintendran passen, ohne die Einfahrt zu versperren. Danach wird direkt der Grill angefeuert und die ersten Biere aufgemacht. Es wird dennoch ein ruhiger Abend, da der Franzose, der Teil einer Gruppe ist, sich bald darauf in sein Auto (ein Kombi) verzieht. Bei der Tour kann man halt alles haben: Wilde Feten mit grölenden Franzosen, Holländern oder sonstigen radsportbegeisterten Landsleuten genauso wie ruhige Abende am Straßenrand.
Seinen größten Vorteil offenbart der gefundene Platz allerdings erst bei Tageslicht. Zwar knallt am frühen Morgen bereits die Sonne auf die Zeltwand, aber am späten Vormittag verschwindet sie hinter den Bäumen, so dass wir während der Werbekarawane und auch der Durchfahrt des Feldes einiges an Schatten haben, und der ist bei den diesjährigen Temperaturen sehr willkommen.
Der vormittägliche Spaziergang führt uns erst den Berg hoch nach Bisanne, das ein wenig enttäuschend ist, da man hier zu 100% auf Skitourismus eingestellt ist und viele Läden jetzt im Sommer verriegelt und verrammelt sind, woran auch die Tour de France nichts ändert. Danach wanderen wir ein wenig bergab und begegnen hier einer wahrhaftigen Tour-Legende, die wir gestern schon zwei Kurven weiter unten erspäht hatten: Didi Senft, auch bekannt als Tour-Teufel. Er lebt die Tour vollkommen und ist bei jeder Etappe anzutreffen, wenn auch mitunter deutlich unterhalb der Paßhöhe, da er ja auch immer wieder früh weg muss, um zum nächsten Pass zu kommen. Ein durchaus interessanter Mensch, wenn auch ein wenig schräg, wie uns bei einer kurzen Unterhaltung klar wird. Aber vielleicht nervt es ihn auch ein bißchen, dass sich alle mit ihm fotografieren lassen wollen. Naja, das ist nunmal der Preis der Berühmtheit.
Sprintersterben Teil 1
Was das Sportliche angeht: Julian Alaphilippe trägt heute das Bergtrikot und wird es bis Paris nicht mehr hergeben. Geraint Thomas gewinnt die Etappe und das gelbe Trikot, und auch er wird dieses Leibchen bis Paris behalten. Unter anderem verpassen Mark Cavendish und Marcel Kittel das Zeitlimit, weitere Sprinter werden morgen folgen.
Ansonsten wird es ein ruhiger Tag. Am Nachmittag geht es – da dieser Berg der erste Anstieg des Tages war – relativ früh weiter zum Col de Madeleine, den wir schon von einer früheren Austragung der Tour kennen. Auch hier entscheiden wir uns, erst zum Paß zu fahren, dort zu wenden, und auf dem Weg nach unten den ersten guten Platz zu nehmen. Und nun sind wir zwar auf fast 2000 Metern, aber es ist trotzdem noch so heiß, dass ich beim Zeltaufbau gut ins Schwitzen komme. Bei Sonnenuntergang ein paar Stunden später wird es dann aber auch schlagartig kalt, so dass ich mir die eigentlich geplante Dusche heute verkneife.
Dorfjugend auf Tour
Der Großteil des Publikums hier oben sind Rentner, die mit ihren Wohnmobilen schon zwei oder drei Tage hier stehen. Eine rühmliche Ausnahme ist die Dorfjugend aus Pussy, einem kleinen Dorf am Beginn des Anstieges, unweit des Flusses Isère. Die kommt am späteren Abend auf einem Traktor den Berg hoch und verteilt sich wenige Meter über uns in mehreren kleinen Zelten am Straßenrand. Als es dunkel wird, komme ich auf dem Weg zum Klo (hier oben muss man aus Mangel an Bäumen schon mal längere Wege in Kauf nehmen) an ihrem Camp vorbei, und werde auf dem Rückweg auch prompt zum Bier eingeladen. Die etwa 12 bis 14 jungen Leute sind wohl zwischen 16 und 23 Jahren alt, und es wird eigentlich eine ganz nette Unterhaltung. Ich bringe ihnen ein bißchen Deutsch bei, das sie auch direkt bei einem etwas weiter oben campenden Deutschen anbringen („Komm trinken!“), und erfahre, dass sie wohl alle Fahrer des ag2r-Teams kennen, das seinen Sitz in der Nähe von Chambery hat. Der vermutlich älteste der Gruppe hat den Traktor hier hoch gefahren, und als abend eine junge Frau aus einem Nachbardorf im Auto vorbeikommt, begrüßen sie sich herzlich, denn, so der Traktorfahrer, „sie hat eine Ziege, genau wie ich, und da haben wir uns halt kennengelernt.“ So läuft das also in den Bergen…
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang kehrt die Hitze zurück und prügelt uns aus dem Zelt. Bis zur Bergwertung ist es 1 Kilometer, da wandern wir doch mal eben hoch. Oben gibt es das typische Tour-Bergwertungs-Programm: Man hat eine Videoleinwand aufgebaut, im Paßhöhenrestaurant gibt es nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch Souvenirs, und die „Boutique officielle“ der Tour ist hier auch mit einem Stand vertreten, an dem es Trikots, Shirts, Socken und ähnliche Devotionalien gibt. Leider von Jahr zu Jahr teurer, und daher halte ich mich heute beim Einkaufen zurück.
Sprintersterben Teil 2
Sportlich ist die heutige Etappe sicher das Sahnehäubchen der Tour, mit drei Pässen sowie dem legendären Schlußanstieg nach Alpe d’Huez. Geraint Thomas gewinnt erneut und unterstreicht seinen Anspruch auf den Leaderstatus im Team Sky, was dessen Verantwortlichen aufgrund der Doping-Gerüchte um Chris Froome eigentlich nur recht sein kann. Mit Rick Zabel und André Greipel verlassen heute weitere Sprinter die Tour, und die folgenden Tage wird eine Diskussion losgetreten werden darüber, wie sinnvoll solch schwere Etappen sind, wenn danach kaum noch Sprinter im Fahrerfeld vorhanden sind, um bei den Flachetappen um den Sieg zu sprinten. Da ist durchaus was dran; wenn jetzt Hinz und Kunz auf dem letzten Kilometer Siegchancen wittern, ist auch die Sturzgefahr deutlich höher, als wenn nur die erfahrenen Leute um den Sieg mitsprinten. Andererseits kommt jemand wie Peter Sagan ja auch gut über die Berge. Warten wir mal die Präsentation der nächstjährigen Tour de France im Oktober ab, ob die Beschwerden der Sprinter erhört wurden.
Mit der Durchfahrt des Fahrerfeldes ist dann die Tour in den Alpen für uns schon wieder vorbei. Aufgrund des schönen Wetters, der tollen Landschaft und der Erinnerungen an die Feierei nach dem WM-Finale hängen wir nach der Etappe noch eine Nacht auf einem Campingplatz am Lac d’Annecy dran. Wäre ja auch Quatsch, direkt heimzufahren, anstatt sich hier an den Strand zu legen, wenn man es nicht unbedingt muss. Nun werde ich zwar am Sonntag schon wieder unterwegs sein, aber wenn ich Freitag nach Hause komme, ist das auch kein Problem. Da habe ich sogar noch Zeit, hier diesen Post zu schreiben…