Ein Blick auf die Karte offenbart, dass ich gestern weniger weit gekommen bin, als ich eigentlich wollte. Man muss sich schon ein bißchen daran gewöhnen, mit was für Wegen man es hier zu tun hat. Der zweite Tag meiner Ilha Grande-Umrundung sollte daran auch nichts ändern.
Strände oder Urwald
Nach meinem Abmarsch von Saco do Céu werde ich mal wieder Opfer der mangelnden Wegkennzeichnung. Darüberhinaus bin ich aber auch gar nicht darauf vorbereitet, dass man unter Umständen mehrere Möglichkeiten hat, um ans Ziel zu kommen. So wie hier am Nordzipfel der Ilha Grande, auf dem Weg nach Bananal. Wenn man stur dem Pfad folgt, gelangt man völlig unvermittelt in Bereiche, die eher an Hinterhöfe als an Durchgangswege erinnern. Und auf meine Frage nach dem Weg nach Bananal werde ich auch prompt zurückgeschickt und auf eine Weggabelung verwiesen, an der ich – ihr ahnt es schon – nur den Stromleitungen folgen muss. Was ich in dem Moment noch nicht weiß, ist, dass es sich hierbei um eine Art Abkürzung durch den Dschungel handelt. Den Weg entlang der Strände, unter anderem mit Freguesia de Santana oder der sehenswerten Lagoa Azul, werde ich damit versäumen. Ein bißchen schade, aber wer weiß, wofür es gut ist. Ich spare dadurch ein bis zwei Stunden an Zeit, die mir vielleicht anderswo fehlen würden.
Auf dem von mir eingeschlagenen Weg geht es dafür mitten durch den Dschungel und über einen Bergrücken an die Nordwestküste der Insel. Es ist natürlich alles feucht hier, und so ergibt sich denn auch der erste Materialschaden: An meinem linken Trekkingschuh löst sich die Sohle! „Schlapp, schlapp, schlapp“ macht es bei jedem Schritt, zwischendurch bleibe ich auch mal an kleinen Ästen hängen, die sich zwischen Fuß und Sohle einklemmen. Auf dem höchsten Punkt des Weges habe ich dann genug: die Schnur meines eh nicht zum Einsatz kommenden Kompasses wird zweckentfremdet und mehrmals mit ordentlichen Knoten um den Schuh gebunden. Damit erledigt sich zwar jegliche Einstellmöglichkeit der Schuhweite, aber die Sohle hält wieder und es kann weitergehen.
Ein Loch im Rucksack
Bei Ankunft in Bananal tut sich ein weiteres Problem auf… im wörtlichen Sinne. Eine der Plastikschienen, die den inneren Rahmen meines eher niederpreisigen Rucksacks darstellen, hat sich durchgescheuert und schaut unten durch einen Riss im Schlafsackfach nach draußen. Mir wird klar: Wenn das weiter einreißt, ist die Tour beendet. Also schiebe ich das Stück Plastik zurück und biege es ein bißchen um, so dass es zumindest keinen weiteren Schaden am Stoff selbst verursacht. Dadurch wird das Einstellen des Rucksacks auch nicht einfacher, zumal ich wirklich nicht weiß, wie ich das Gewicht am besten zwischen Schulter- und Hüftgurten verteilen soll. Die Schultern tun mir schon weh, und an der Hüfte bin ich schon wundgescheuert. Scheiß Backpacking! Aber irgendwie geht es weiter, muss es weitergehen, und dann muss man auch mal die Zähne zusammenbeißen.
Das sind dann die schwierigen Momente einer solchen Tour. Und die hat wohl jeder. Wie schön wäre es jetzt bei einem Latte Macchiatto daheim auf dem Sofa? Oder in Pucón? Ich mache eine Pause und rufe mir meine Motivation ins Gedächtnis. Ich glaube, bis Araçatiba wäre es noch möglich, die Rundwanderung abzubrechen und ein Boot zurück nach Abraão zu nehmen, wo ich mich einfach noch ein paar Tage an den Strand legen könnte. Aber was soll ich bei bedecktem Himmel und Nieselregen am Strand? Also weiter!
Der weitere Tag verläuft relativ ereignislos. Einmal, in Matariz verlaufe ich mich, finde aber dank der Hilfe eines Einheimischen schnell wieder zurück. Die Orte, die der Weg jetzt bereithält, verdienen diesen Namen eigentlich gar nicht: Zwei, drei Hütten gibt es, und wenn man Menschen sieht, versteht man sie kaum, oder – und das hatte ich so nicht unbedingt erwartet – man wird immer wieder daran erinnert, dass das wilde Zelten am Strand verboten ist. In Sitio Forte kann ich zumindest Wasser kaufen, werde aber schon weitergeschickt, bevor ich überhaupt auf die Idee kommen kann, mein Zelt auszupacken.
Eine Nacht im Dschungel
Ein netter Brasilianer erzählt mir, er habe zwar ein Zimmer, das sei aber gerade vermietet. Und die einzige Pousada, die es in der Ecke gäbe, läge jetzt schon ein paar Kilometer hinter mir, in einer Bucht, zu der ich vor zwei Stunden hätte abbiegen müssen. Er wünscht mir Glück, „Vai com Deus“ – „Geh mit Gott“ sagt er. „… aber geh!“ füge ich in Gedanken hinzu. Also wandere ich weiter, auch noch, als es gegen sechs Uhr langsam dunkel wird. Bei Ubatubinha, eigentlich nur ein Haus mit einem Bootssteg, entfernt sich der Weg wieder von den Stränden. Es geht einen steilen Berg hoch in den Urwald, und nach einer halben Stunde Nachtwanderung mit Taschenlampe finde ich einen Bambushain, an dem sich der Weg von den üblichen 50 Zentimetern auf etwa ein Meter fünfzig verbreitert. Hier bleibe ich.
Das Zelt ist schnell aufgebaut. Es ist nicht nur stockfinster (nicht mal Sterne sehe ich unter dem Blätterdach des Dschungels), sondern auch relativ still. Ich frage mich, ob mir hier etwas passieren kann. Wilde Tiere? Eher nicht. Außer Spinnen und Ameisen vielleicht, hoffentlich habe ich mein Zelt jetzt nicht gerade auf deren Behausung aufgebaut. Und Menschen, die jetzt noch hier entlanggehen, wohl auch nicht. Zumindest nicht ohne Taschenlampe, so dass sie schon nicht über mein Zelt fallen werden. Als ich das Zelt von innen schließe, fühle ich mich nun wirklich wie ein Abenteurer: Selbst die Wildcamper hier auf der Insel schlafen wohl eher an Stränden, aber so mitten im Dschungel? Das mache nur ich!
Mein Abendessen ist ein kleiner Kuchen aus einem Supermarkt in Abraão, und dann fallen mir nach dem heutigen langen Tag auch schon die Augen zu.